Radpropaganda im Interview

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Für den geruhsamen Sonntag-Nachmittag hier nun das komplette RADPROPAGANDA-Interview aus dem POLAR-Magazin #11, das erste Mal komplett online. Kurz zum Hintergrund: Die POLAR ist ein Berliner Halbjahresmagazin zu Politik, Kultur, Theorie und Alltag. Die POLAR-Ausgabe 01/2012 bzw. Ausgabe #11 war dem Thema “Sicherheit” gewidmet. Neben sehr lesenswerten Beiträgen u.a. von Herfried Münkler, Mark Neocleous, Charlotte Misselwitz, Christoph Raiser und Matthias Dell, die sich dem Komplex "Sicherheit" aus verschiedensten Richtung nähern, findet sich hier auch die Mitschrift eines Gesprächs mit uns zum Themenfeld Sicherheit, Radfahren und Straßenverkehr.

Unter dem Sattelschlepper nützt der Helm herzlich wenig

Sicheres Radfahren im Straßenverkehr? Da werden Erinnerungen an theoretische Fahrprüfungen und Rolf Zukowski wach, und auch daran, dass ein fehlendes Katzenauge am Fahrrad mitunter sehr teuer werden kann. Dabei wäre gerade unsichtbares Fahren die sicherste Variante, um auf einem Fahrrad durch die Stadt zu kommen. Unsichtbares Fahren? Ein Gespräch mit Tim Kaiser und Ole Barnick, den Autoren des Blogs radpropaganda.org, über Schlaglöcher, starre Naben und die Tatsache, nicht gesehen zu werden.

polar: Was ist schlimmer für Radfahrer: Ein LKW auf der Rechtsabbieger-Spur, Schlaglöcher im Straßenbelag oder eine 20-köpfige Radtouristengruppe mit breiten Lenkern auf der Hauptstraße?

Radpropaganda: Am gefährlichsten ist natürlich der LKW durch seinen großen und auch mit Spiegelnachrüstungen nie vollständig einsehbaren toten Winkel. Eine Kombination aller drei Situationen wäre aber schon ein ziemlich unangenehmes Szenario – womöglich ungeübte Radfahrer, für die das Schlagloch eine fahrtechnische Herausforderung ist und ein abbiegender LKW mit totem Winkel auf einer Straße, die für den Autoverkehr optimiert wurde. Übrigens eine Situation, die man "Unter den Linden" in Berlin derzeit beobachten kann. Quasi als Bonus gibt es hier noch Baustellen mit kniehohen Betonabgrenzungen und Metallzaun, die den Raum für Räder zwischen Abgrenzung und den Bussen auf eine Lenkerbreite reduzieren.

polar: Warum ist es um die Sicherheit für Fahrräder im Straßenverkehr so schlecht bestellt?

Radpropaganda: Zunächst sind die Straßen der Gegenwart grundsätzlich für Autos geplant und gebaut. Und auf diesen Straßen gibt es viele Autos – gerade Deutschland ist im globalen Vergleich stark motorisiert. Wenn von fehlender Sicherheit oder „Gefahr“ im Straßenverkehr gesprochen wird, ist sie sehr ungleich verteilt, nämlich auf der Seite der schwächeren Verkehrsteilnehmer – den Radfahrern und Fußgängern. Autofahrer riskieren im Stadtverkehr relativ wenig – wenn der telefonierende SUV-Fahrer beim Abbiegen also nicht blinkt, wird er keinerlei körperliche Sanktionen befürchten müssen. Wenn die Radfahrerin den Schulterblick vergisst, ist sie vielleicht tot. Im Diskurs um Sicherheit im Stadtverkehr lassen sich dann recht interessante Muster erkennen: Eine gängige Meinung ist, dass sich Radfahrer mit möglichst vielen Reflektoren, Bremsen, Lichtern und Helmen versehen sollten, damit ihre „Sicherheit“ gewährleistet ist. Oder die regelmäßigen Klagen, insbesondere zum vermeintlichen „Saisonbeginn,“ über so genannte „Rad-Rowdies“ oder „Rad-Hooligans“, die „sich und andere“ mutwillig in Gefahr bringen. Hier ist eine Tendenz erkennbar, die Produktion von Gefahr und fehlender Sicherheit Radfahrern und ihrem mutmaßlich fahrlässigen Verhalten zuzuschreiben. Steigen also die registrierten Unfälle mit Radfahrerbeteiligung, führt die Verkehrspolizei flugs umfangreiche Schwerpunktkontrollen von Radfahrern durch. Verwarnungen, Bußgelder, Auflagen – in Berlin seit letztem Sommer auch Radkonfiszierungen – und zack, schon ist die Sicherheit wiederhergestellt.

polar: Aber wenn Radfahren im Straßenverkehr ohnehin schon gefährlich ist, warum fahren dann immer mehr Menschen mit Fixed-Gear-Rädern, wo doch die Kontrolle ohne Bremsen scheinbar völlig flöten geht?

Radpropaganda: Scheinbar ist richtig. Für Außenstehende ist die Vorstellung, keine Bremsen zu haben, wahrscheinlich ein Albtraum. Wenn ich vollkommen unvorbereitet mit meinem Hollandrad plötzlich den Ausfall aller Bremsen zu beklagen hätte, wäre das auch sicher fatal. Ein Fahrrad mit starrer Nabe funktioniert aber vollkommen anders – und es gibt durchaus Möglichkeiten die Geschwindigkeit sehr genau zu kontrollieren, etwa dadurch, wie schnell oder langsam ich trete. Während man sich bei einem voll ausgestatteten Fahrrad gerne blind auf sein Gefährt verlässt, gilt es bei einem Fixie vorausschauend zu fahren und seinen Fahrstil dem fließenden Verkehr und den eigenen Fähigkeiten anzupassen. Diese Regel sollte eigentlich für alle Verkehrsteilnehmer gelten – das wird aber gerne vergessen. Selbstüberschätzung und Ignoranz wird auch mit einem Fixie zu Unfallen führen.

polar: Eine andere Mode scheint zu sein, dass Fahrradhelme sich immer mehr durchsetzen. Ein Helm würde beispielsweise vor dem abbiegenden LKW auch nicht schützen, warum also immer mehr Helme?

Radpropaganda: Klar – wenn man unter einem Sattelschlepper landet, nützt einem der Helm herzlich wenig. Aber Fahrradhelme schützen vor Kopfverletzungen und sind deswegen grundsätzlich nicht falsch. Aber die paternalistische Forderung nach einer allgemeinen Helmpflicht setzt, wie eben schon angeschnitten, am falschen Ende an. Helme dienen der passiven Unfallfolgenvermeidung – sie werden relevant, wenn ein Unfall passiert. Ziel sollte aber vor allem sein, durch Mittel der aktiven Unfallvermeidung diese Situation gar nicht erst eintreten zu lassen. Auf der Straße fahren zu dürfen statt Radweg-Benutzungspflicht, Zusatzrückspiegel für LKW, sichtbare Blinkanlagen oder idealerweise autofreie Innenstädte würden deutlich mehr Sicherheit im Stadtverkehr produzieren als eine Schale aus Polystyrol auf dem Kopf von Radfahrern. Das Tragen von Radhelmen hat mehr mit gefühlter Sicherheit zu tun als mit einer sachlichen Risikoanalyse. Problematisch ist – Kinder einmal ausgenommen – dass gerade diese gefühlte Sicherheit zu einer risikoreicheren Fahrweise von Radfahrern führt. Behelmt, mit Reflektorweste, umfangreichem Beleuchtungsarsenal und Ortlieb-Satteltasche ausgestattet, wird dann auch gerne mal versucht den A6 in seine Schranken zu weisen….Gleichzeitig nehmen Autos die Radfahrer als geschützter war und tendieren dazu enger zu schneiden. Ein schwieriges Thema….

polar: Sind Helme und Fixed-Gear nicht zwei gegenläufige Trends?

Helme und eine feste Nabe decken scheinbar verschiedene Bedürfnisse ab – schließen sich dabei aber nicht aus. Ursprünglich hatte ein Fixie neben seinen Fahreigenschaften und seiner Ästethik noch weitere Vorteile, die inzwischen leicht übersehen werden: Verschleißteile, die gar nicht erst verbaut werden, können auch nicht kaputt gehen oder geklaut werden – für ein Fahrrad, das jeden Tag in der Stadt unterwegs ist, kein unwichtiger Faktor. Dass es bei Modeerscheinungen zu aberwitzigen Auswüchsen kommt, und manches Vorderrad locker soviel kostet wie zwei komplette Fahrräder, ist klar. Fahrräder funktionieren inzwischen als Accessoire und Mittel zum großstädtischen Distinktionsgewinn. Helme sind weniger geeignet als modisches Accessoire, einen Teil ihrer zunehmenden Popularität haben sie sicher auch entsprechenden Presse-Berichten zu verdanken – Stichwort Skiunfall von Dieter Althaus. Es gibt es aber auch bei einer immer breiteren Gruppe von Radfahrern einfach das Bedürfnis, durch Helme etwas für den eigenen und den Schutz der Kinder zu tun, was ja nicht verkehrt ist – solange nicht vergessen wird, dass die Gefahr durch Kraftfahrzeuge hierdurch unberührt bleibt.

polar: Helme und Bremsen tragen also beide nicht von selbst zur Sicherheit im Straßenverkehr bei, weil natürlich auch der Verkehr relational und der Andere nicht immer berechenbar ist. Was können Radfahrer denn am ehesten tun, um der Gefährdung durch Andere zu entgehen?

Radpropaganda: Sie können sich eine Fahrweise angewöhnen, die wir auch unsichtbares Fahren nennen können. Das heißt man bewegt sich mit dem Fahrrad im fließenden Verkehr auf der Straße so, dass es irrelevant wird, ob Autofahrer einen sehen können oder nicht. Eine normale, „sichtbare“ Fahrweise beruht darauf, dass Autofahrer ihr Verhalten verändern, um Kollisionen zu vermeiden. Wenn ein Autofahrer den Radfahrer dann nicht sieht, kommt es also zum Unfall. Nimmt man aber nun an, „unsichtbar“ zu sein, kommt es auch dann nicht zum physischen Kontakt, wenn der Autofahrer mich tatsächlich nicht gesehen hat. Es geht einfach darum, vorausschauend zu fahren und nicht damit zu rechnen, dass Autos etc. einen sehen. Sicher wäre das Beste, wenn unsere quasi hippieeske Vorstellungen von autofreien Innenstädten auch Wirklichkeit würde. Man muss sich nur mal vorstellen, wie schön es wäre, wenn jedes Auto im „Stop and Go“-Berufsverkehr wie durch Zauberhand in ein Fahrrad verwandelt würde. Aber bis dem so ist müssen wir eben davon ausgehen, nicht gesehen zu werden.

Interview: Christoph Raiser

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POLAR Ausgabe #11 – Editorial | polar-zeitschrift.de

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